Portrait von Jan Sonntag mit GitarreFachleute empfehlen Musik schon lange als Therapiemedium bei der Behandlung von Menschen mit Demenz. Wie selbstverständlich setzen auch Ergotherapeuten auf Musik, um Kontakt aufzubauen und zu aktivieren. Doch wie läuft professionelle Musiktherapie ab? Wir haben einen Experten gefragt: den bekannten Musiktherapeuten Jan Sonntag.

Auf ein Wort

Im Frühjahr 2010 stellte ich hier bereits das Buch Musik-Demenz-Begegnung von den vier Musiktherapeuten Jan Sonntag, Britta Warme, Dorothea Muthesius und Martina Falk vor. Nun konnte ich einen der Autoren, Jan Sonntag, für ein Interview gewinnen. Ende Januar trafen wir uns zu einem gemütlichen Austausch bei ihm in der Alten Wache in Hamburg.

Anne Jakobs: Wie wird Musik in der Therapie eingesetzt?

Jan Sonntag: Musik wird weniger eingesetzt, sondern entsteht vielmehr während der Therapie. Als Musiktherapeut nehme ich auf, was mir musikalisch entgegentritt. Musik entwickelt sich zum Beispiel über rhythmische Äußerungen. Wenn eine Bewohnerin kontinuierlich auf den Tisch klopft, würde ich das aufgreifen und mit ihr zusammen klopfen. Es würde ein gemeinsames musikalisches Tun entstehen. Zunächst wird der Bewohnerin nur bewusst, dass sie auf den Tisch klopft. Doch dann merkt sie auch, dass sie schöpferisch tätig ist und Musik macht. Das gibt ihr ein gutes Gefühl. Musiktherapeuten haben häufig Begleitinstrumente dabei, wie die Gitarre oder das Akkordeon. Das Singen vertrauter Lieder steht meist im Mittelpunkt der Musiktherapie. Instrumente dienen häufig der Liedbegleitung. Sie können zum Einsatz kommen, müssen aber nicht.

Anne Jakobs: Was löst Musik bei demenziell erkrankten Menschen aus?

Jan Sonntag: Musik erzeugt das Gefühl von Identität. Sie stärkt das Selbstgefühl, das durch die Demenz abhanden kommt. Musik gilt ja als Sprache der Gefühle. Musik ermöglicht das Ausdrücken von Gefühlen, wo Sprache vielleicht immer weniger zur Verfügung steht. Sie löst Erinnerungen aus und hat damit für Menschen mit Demenz eine ganz besondere Bedeutung. In der Gruppe erzeugt Musik vor allem ein Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Das geht eigentlich mit keinem anderen Medium so gut wie mit Musik. Das wissen auch viele Ergotherapeuten. Und natürlich löst Musik Bewegung aus. Zum einen eine innere Bewegung, also die Gefühle. Und zum anderen die äußere Bewegung, wie das Klatschen, Schunkeln, Tanzen - da wird so manche Physiotherapeutin neidisch!

Musiktherapie und Ergotherapie

Anne und Jan im GesprächAnne Jakobs: Was ist der Unterschied zwischen Musiktherapie und Ergotherapie?

Jan Sonntag: Musiktherapie versteht sich als eine Form der Psychotherapie. Die Hauptmethode der Musiktherapeuten ist die Improvisation. Wir gehen frei und ohne Plan in den Kontakt und orientieren uns an dem, was der Klient einbringt oder vorgibt. Musiktherapeuten arbeiten prozessgeleitet. Ergotherapeuten dagegen arbeiten eher zielgeleitet, also ergebnisorientiert. Sie haben einen Plan und wollen bestimmte Ziele erreichen. Das Handeln eines Ergotherapeuten ist mehr zweckmäßig oder funktionell. Allerdings ist es wichtig zu betonen, dass sich die Methoden von Ergotherapeuten und Musiktherapeuten bei der Arbeit mit demenzbetroffenen Menschen angleichen.

Anne Jakobs: Was können beide Berufsgruppen voneinander lernen?

Jan Sonntag: Ergotherapeuten, die sehr an Strukturen oder vorgegeben Zielen festhalten, könnten eigene Erwartungen etwas herunterschrauben und sich vertrauensvoller in den therapeutischen Prozess einlassen. Musiktherapeuten dagegen dürften gerne etwas bodenständiger und lebensnäher sein. Auch ein Musiktherapeut sollte sich am Alltag der Betroffenen orientieren und die ADLs kennen.

"Ich mag diese Impulsivität"

Anne Jakobs: Wie bist du zur Musiktherapie gekommen?

Jan Sonntag: Mein Wunsch war es, etwas Musikalisches mit etwas Sozialem zu verbinden. Als Kind lernte ich schon Klavier spielen und als Jugendlicher wechselte ich dann zu Gitarre. Eine entfernte Tante, die Komponistin Prof. Brunhilde Sonntag, brachte mich auf die Musiktherapie und ich wusste schnell, dass ich genau das machen will. Dann habe ich in Heidelberg an der Fachhochschule Musiktherapie studiert. 1999 bekam ich eine Stelle in der sogenannten Besonderen stationären Dementenbetreuung. In Hamburg war damals viel im Aufbruch und die Arbeitsbedingungen in diesem Bereich günstig. Zunächst habe ich nur ein paar Stunden mit demenzbetroffenen Menschen gearbeitet, aber schon nach ein paar Wochen merkte ich, dass da eine besondere Chemie war. Ich habe mich mit sehr viel Motivation und Leidenschaft in das Thema eingearbeitet und die Arbeit mit demenzbetroffenen Menschen wurde dann zu meinem Schwerpunkt.

Anne Jakobs: Was bereichert dich an dieser Arbeit am meisten?

Jan Sonntag: Besonders bereichert mich das Gefühl, so ganz direkt und unmittelbar helfen zu können. Es ist schön, die Wirksamkeit meines Tuns so direkt gespiegelt zu bekommen. Gerade für Menschen mit Demenz ist das Medium Musik besonders geeignet und kostbar. Sie brauchen ganz viel davon. Zudem gefällt mir an der Arbeit das Unkonventionelle, Spontane, Kreative. Menschen mit Demenz reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, und verhalten sich so, wie sie es gerade wollen. Wenn sie tanzen wollen, fangen sie einfach an sich zu bewegen. Ich mag diese Impulsivität. Bereichernd ist vor allem aber auch der Wert von unmittelbarer Begegnung und der vergleichbar geringe Wert von Sprache im Sinne von sachlicher Vermittlung. Man kann häufig beobachten, dass zwei alte Menschen mit Demenz sich angeregt in einem unverständlichen Kauderwelsch unterhalten. Für uns ergibt das Gespräch keinen Sinn, aber die beiden Personen verstehen sich offensichtlich bestens. Das finde ich stark. Und auch ernüchternd. Wir denken ja immer, wir müssten uns besonders gut ausdrücken!

Anne Jakobs: Gibt es eine Situation die dich besonders berührt hat?

Jan Sonntag: Ja, davon gibt es viele! Ich suche fast täglich nach Situationen, die Berührung auslösen. Denn auch für meine Klienten ist es wichtig, berührbar zu bleiben. Eine Bewohnerin in einem Pflegeheim hat mich nachhaltig beeindruckt. Sie stand minutenlang vor einem Gemälde und streichelte dieses zart und mit großer Hingabe. In ihrer Verwirrtheit war sie vollkommen eingesogen in diese Kunst und fand Sinn im Sinnlichen. Das war ein toller Moment.

Anne Jakobs: Vielen Dank für das Gespräch!