Evamaria Molz sing mit Heimbewohnerin

Ein Lied sagt mehr als tausend Worte: Wer singt, aktiviert Erinnerungen, stellt Kontakt her und fühlt sich einfach wohler. Anlässe gibt es genügend - zur Not geht es auch ohne. Dazu benötigen wir allerdings Mut! Dieser Leitfaden zeigt, wie Ergotherapeuten und Betreuungskräfte einen emotionalen Zugang zu demenzkranken Menschen finden, die manchmal nur schwer mit Worten erreichbar sind.

Was Singen für Senioren bedeutet und bewirkt

Heute hochbetagte Menschen sind in einer Zeit aufgewachsen, in der Musik nicht allgegenwärtig war wie heute. CD-Spieler, MP3-Player und Smartphones gab es nicht, Radio und Schallplatten besaßen nur wenige. So war Singen als einfache musikalische Betätigung im Alltag selbstverständlich: Es begleitete Arbeit und Freizeit, umrahmte wichtige Stationen im Verlauf eines Menschenlebens, und es stand für innige und lebenslang prägende Situationen, etwa das Singen einer Mutter an der Wiege.

5 Gründe, warum Singen im Alter gut tut

Zunächst steht das Singen als eigenständige musikalische Betätigung jedem Menschen zur Verfügung. Es ermöglicht gleichermaßen individuellen Ausdruck wie auch Vertiefung und Belebung von Gemeinschaft. Forscher haben erkannt, wie positiv Singen für den alten Menschen ist:

  1. Im Gehirn sind bei der Musikausübung das Hör- und das Sprachzentrum miteinander vernetzt.  So wirkt  Singen dem Sprachverlust entgegen
  2. Auch bei fortschreitender Demenz bleibt das musikalische Erleben und Empfinden lange erhalten. Das Singen von vertrauten Liedern baut entsprechende Gedächtnisbrücken direkt zu vergangenen Zeiten. Musik zu hören und auszuüben gehört zu den Tätigkeiten, die laut Hirnforscher Gerald Hüther „unter die Haut gehen“ und auf diese Weise bis ins hohe Alter Erinnerungen aktivieren und sinnstiftend wirken.
  3. Singen wirkt gegen Angst.
  4. Die Einwirkung auf das limbische System, das Ausschütten von Glückshormonen (Endorphinen) und des Bindungshormons Oxytocin beim Singen sind vielfach nachgewiesen und erklären das Wohlgefühl, das sich beim Singen vor allem in der Gemeinschaft einstellt.
  5. Singen geht nicht ohne den Körper: Atmung, Konzentration, Körperhaltung verbessern sich wie von selbst, was wiederum Depression und Lethargie entgegenwirkt.

Es geht auch ohne Gesangsausbildung

Ein kleines Lied

Ein kleines Lied! Wie geht’s nur an,
Dass man so lieb es haben kann,
Was liegt darin? Erzähle!
Es liegt darin ein wenig Klang,
ein wenig Wohllaut und Gesang
und eine ganze Seele.

Ein Gedicht von Marie von Ebner-Eschenbach

Was hindert uns also daran, es einfach zu tun? Einfach jeden Tag und bei vielen Gelegenheiten dieses Wundermittel einzusetzen, das die Lebensfreude demenziell erkrankter Menschen fördert, kritische Situationen entschärfen kann, Gemeinschaft erzeugt und einfach gute Laune verbreitet?

Vielfach hat es mit einem Gefühl von Unzulänglichkeit zu tun, das häufig die jüngeren, therapeutisch oder betreuend tätigen Menschen empfinden mögen. Die Stimme ist eine sehr persönliche Angelegenheit. Und etlichen von uns, vielleicht auch unserem hochbetagten Gegenüber, ist irgendwann gesagt worden, man singe nicht schön, nicht richtig, man singe zu laut, zu falsch. Auch hat sich bei jungen Menschen eine Klangvorstellung etabliert, die geprägt ist von perfekten Studioaufnahmen, die nicht mehr viel mit natürlichem Gesang zu tun haben. Entsprechend der Zunahme des passiven Musikgenusses nimmt das aktive Singen im Alltag ab.

Dagegen halte ich einfach mit Erich Kästner: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“

Anlässe für therapeutische oder alltagsbegleitende Sing-Angebote im Senioren- oder Pflegeheim

Will ich heute Menschen, die eine lange Lebensstrecke hinter sich haben, angemessene Anregungen bieten, liegt es nah,  sich an den Sitten und Gebräuchen früherer Zeiten zu orientieren:

  • Da ist zunächst das Singen in der Gemeinschaft: Analog zum verbreiteten Singen in Chor oder Gesangsverein, auch in der Schule, lässt sich in Einrichtungen ein regelmäßiger Singnachmittag organisieren, zu dem alle Bewohner, die fit genug sind, eingeladen werden.
  • Feste und Feiern mit Liedern umrahmen: Vor allem die kirchlichen Feiern im Jahreskreis oder auch Geburtstage und andere Jubiläen verdienen es, in der Gemeinschaft mit Gesang veredelt zu werden.
  • Allerdings hat man früher auch viel „einfach so“ gesungen: Die Großmutter, die beim Kochen trällerte, und dabei nicht jeden Ton genau traf, ist vielen noch in lieber Erinnerung. Arbeit ging besser von der Hand, wenn sie mit einem Lied begleitet wurde.

Wie könnte dieses Tun in den heutigen Alltag einer Betreuungseinrichtung übertragen werden?

Liedbeispiele für bestimmte Situationen

  • Bruder Jakob, schläfst du noch: Zum Aufstehen motivieren
  • Grün, grün, grün sind alle meine Kleider: An- oder Auskleiden
  • Wasser ist zum Waschen da; Vom Wasser haben wir´s gelernt: Körperpflege
  • Das Wandern ist des Müllers Lust; Muss i denn zum Städtele hinaus: Transfer, Begleitung
  • Wir haben Hunger, Hunger, Hunger: Warten auf eine Mahlzeit

Singen statt Überreden

Professor Böhm, der Pflegewissenschaftler aus Wien hat den Satz geprägt: „Vor den Beinen muss die Seele bewegt werden“. Vieles, was wir für bedeutsam halten, ist aus der Sicht unseres zu betreuenden Gegenübers gerade nicht angesagt. Wollen wir als Pflegende oder Therapeuten jemanden aktivieren, der im Moment keinen Grund sieht, aus seinem Bett aufzustehen, ist es sinnvoller, seine Seele zu berühren, als ihn mit Argumenten zu überreden. Kaum ein Mittel ist emotional so wirksam wie das ganz persönliche Singen. Das gilt auch für Pflegehandlungen, die abgelehnt werden, Situationen, die zu entgleisen drohen, Unruhezustände und andere schwierige Gegebenheiten im Alltag mit demenziell Erkrankten.

Das heißt, hier kommt eine Form des Singens zum Tragen, die heute nicht mehr so verbreitet ist: für jemanden singen. Aus dem Augenblick heraus. Das erfordert anfangs ein wenig Mut, es erfordert Selbstvertrauen und ein ausreichend großes Repertoire, das situationsgerecht eingesetzt werden kann. Diese Art des Singens, die die intime und Geborgenheit schaffende mütterliche Zuwendung zum Vorbild hat, baut Nähe und gegenseitiges Verstehen ohne Worte auf.

Los geht’s – Worauf Du bei der Durchführung achten solltest

Ein sehr wichtiger Aspekt dieses sehr persönlichen Miteinanders ist hier anzumerken: Unabdingbar ist, dass die Person, die diese Zuwendung gibt, dieses authentisch und mit einem eigenen Wohlgefühl tun kann. Ich achte also auf mich, und das gelingt mir am besten, wenn ich mich von zu hohen Ansprüchen an mich selber befreien kann. „Ich bin ich und ich klinge heute so.“

Streng dich nicht an, schwinge dich ein, indem du mit einem Summen beginnst oder mit dem lockeren Singen der Melodie deines Liedes auf „dum, dum …“ oder „ba bam, badam ...“ Mit den Wiederholungen der Tonzeilen kommt später erst der Text hinzu. Auch kannst du gerne bei der ersten Strophe bleiben und damit immer wieder von Neuem beginnen.

Da du für und mit einem einzelnen Menschen singst, braucht es nicht laut zu sein. Wichtig sind die Intensität und eine Form von Leichtigkeit, gerne auch Beiläufigkeit. Erlaube dir, Fehler zu machen. Wenn dir der Text gerade entfallen ist, vielleicht hilft dir ja dein Gegenüber weiter, oder du fährst fort mit „dum, dum ...“

Entdeckerfreude: Finde heraus, welche Lieder auf gute Resonanz treffen, denn das wird bei den Menschen, mit denen du zu tun hast, unterschiedlich sein.

Regelmäßigkeit: Entwickle Rituale für ähnliche Situationen. Sei bei deinen Experimenten immer bei dir und dem Menschen, für den oder mit dem du singst: Wie ist die Reaktion, lächelt er, singt er mit? Wenn dein Gegenüber Körperkontakt mag, gibt es die Möglichkeit, im Rhythmus der Musik den Rücken zu streicheln, zu massieren, die Hände zu bewegen, leicht miteinander zu schunkeln.

Welche Lieder sind geeignet?

Alle, mit denen du dich wohlfühlst. Der Liedinhalt kann zu der gerade gelebten Situation passen, muss es aber nicht. Volkslieder und Kinderlieder haben den Vorteil, dass sie einfach zu singen sind. Aber wenn es zu dir und deinem Gegenüber passt, kannst du natürlich auch einen Schlager oder etwas aus einer Operette zum Besten geben. Oder du improvisierst ein Potpourri aus Melodien, die dir gerade in den Sinn kommen. Auch kommt es durchaus vor, dass etwa ein Kirchenlied eine demenziell erkrankte Ordensfrau besonders gut motiviert, sich bei der Körperpflege unterstützen zu lassen.

Fazit

Kommunikation läuft nur zum kleinsten Teil über das gesprochene Wort. Wenn zudem eine Demenz das Sprechen und Verstehen einschränkt, ist der emotionale Austausch über das Singen ein überaus wertvoller Ersatz.

Empfehlungen zum Singen mit Senioren

Habt ihr weitere Tipps zum Thema Singen?

Dann schreibt einen Kommentar, wie und mit welchen Liedern ihr eure Bewohner oder Klienten besonders glücklich macht!

Über die Autorin

Evamaria MolzEvamaria Molz studierte Musik- und Tanzpädagogik am Orff-Institut/Mozarteum in Salzburg und unterrichtete über 20 Jahre lang an der Fachakademie für Sozialpädagogik in Deggendorf Musikerziehung und Rhythmik. Als Betreuerin und Begleiterin ihrer an Demenz erkrankten Mutter sammelte sie vielfältige Erfahrungen, wie durch die Beschäftigung mit vertrauter Sprache und Musik eine Brücke entsteht vom Nicht-Verstehen oder Nicht-mehr-Können zum Wiedererkennen und Geborgen-Fühlen. Mit diesen Erfahrungen entwickelt sie unter dem Namen memosens Liededitionen, die das Singen mit Hochbetagten und demenziell Erkrankten niederschwellig auch musikalischen Laien ermöglicht. Evamaria Molz hält Fortbildungskurse zum Themenkreis Musik in der Pflege und gibt neben den Liededitionen auch Literatur für die Zielgruppe heraus. Mehr unter memosens-erinnern.de.