Seniorin im Altenheim liest ein BuchFoto: Timo-Kuusela (CC BY 2.0)Lesen macht Spaß, Vorlesen sowieso und Geschichten vorgelesen zu bekommen gehört zu den schönsten Kindheitserinnerungen. In der Betreuung und Ergotherapie von Senioren steigert es die Lebensqualität und regt Gespräche an. Wie das auch mit Demenzkranken gelingt, zeigt unsere ultimative Anleitung Schritt für Schritt mit vielen Lesetipps.

Einführung

Lesen ist eine der alltäglichsten Aktivitäten im Leben. Wir können gar nicht anders: Sobald unser Auge Buchstaben entdeckt, setzt unser Gehirn sie zu sinnvollen Wörtern zusammen. Aber was passiert, wenn Senioren diese Fähigkeit verlieren? Wie helfen Angehörige und Fachkräfte am besten?

Dieser Leitfaden geht auf die wichtigsten Fragen rund um das Vorlesen von Geschichten ein. Was mache ich bei Multimorbidität? Wie wähle ich einen geeigneten Text aus? Was muss ich in der Betreuung (§§ 43b, 53c SGB XI, ehemals § 87b SGB XI) beachten, damit meine Vorlese-Einheit als aktivierende Leistung gut ankommt? Worauf sollten Ergotherapeuten beim Vorlesen als therapeutische Leistung zusätzlich achten? Wir zeigen Schritt für Schritt, wie es geht!

Vorbereitungen bei Multimorbidität

Viele demenziell erkrankte Menschen leiden an weiteren Diagnosen (Multimorbidität), die das Lesen oder Vorlesen bekommen erschweren. Zu den Einschränkungen in der Mobilität gesellen sich auch Probleme in der visuellen und auditiven Informationsverarbeitung. Diagnosen wie zum Beispiel Schwerhörigkeit, grauer Star oder Apoplex mit Neglect beeinträchtigen ebenfalls die Lesefähigkeit. Hier ist die Umsicht der Betreuenden gefragt, die nicht nur vorlesen, sondern auch dafür sorgen, dass die vorhandenen Hilfsmittel wie Hörgerät und Brille zum Einsatz kommen.

Welche Hindernisse das Vorlesen erschweren

Nachdem die Rahmenbedingungen dank Hilfsmittel optimiert sind, wenden wir uns dem eigentlichen Vorlesen zu. Ein paar Faktoren trüben das Interesse Demenzkranker daran:

  • geminderte Konzentrationsfähigkeit
  • Defizite in der Informationsverarbeitung (etwa erhöhter Zeitbedarf bei der Verarbeitung des Gehörten im Gehirn)
  • erhöhte Ablenkbarkeit

Folgende Grundregeln zu Textauswahl und Darbietungsweise setzen auf die noch vorhandenen Ressourcen der Demenzkranken. So helfen sie, das Interesse zu wecken und zu halten.

Die Textauswahl

Im Forum

Seit 2008 tauschen sich die EbeDe.net-Leser zum Thema Geschichten zum Vorlesen über gute und geeignete Vorlese-Literatur aus:

Kurzgeschichten eignen sich gut

Lange Texte überfordern oft die demenziell erkrankten Menschen. Ihre maximale Konzentrationsspanne ist deutlich geringer und reicht höchstens für kurze Geschichten. Ebenfalls hat die geminderte Merkfähigkeit einen deutlichen Einfluss. Wenn die Geschichte zu lang ist, vergessen Demenzkranke, wie die Geschichte begonnen hat. In der Praxis haben sich Texte bis zu einer DIN-A4-Seite bewährt. Besonders bei mittel bis schwer demenzkranken Menschen sollte das Vorlesen nicht die Gedächtnisleistung beanspruchen, sondern auf der emotionalen Ebene packen.

Geeignete Texte selbst erkennen

Es gibt mittlerweile ein sehr umfangreiches spezialisiertes Literaturangebot. Aber woran erkenne ich geeignete Geschichten selbst? Sie sollten vor allem aus kurzen Sätzen mit einfachem Satzbau bestehen. Die Faustregel lautet: Wenn es mir bei einem bestimmten Text besonders leicht fällt, ihn vorzutragen, dann ist er meist auch für mein Publikum gut zu verstehen. Beim ersten Vorlesen eines neuen Textes sollte ich die Reaktionen der Zuhörer genau beobachten. Nur wenn das Publikum ihn gut aufnimmt, wird er in die eigene Geschichtensammlung aufgenommen.

Geschichten für Senioren – unsere Vorlesetipps

Bücherstapel haushochFoto: Nico-Zorn (CC BY 2.0)Wir haben bereits einige Bücher mit Geschichten speziell für Demenzerkrankte auf EbeDe.net rezensiert:

Auch Gedichte kommen oft gut an, hier ein paar Vorschläge:

Anlaufstellen im Netz: Gedichte, Kurzgeschichten und Geschichtensammlungen für Senioren

Viele Texte findest Du frei zugänglich im Netz. Gute Anlaufstellen hierfür sind:

  • Heinzerhardt.com - Wissenswertes zur Person Heinz Erhardt und seine Gedichte
  • autoren-gedichte.de - umfangreiche Gedichtsammlung bekannter Dichter wie Busch, Goethe, Ritter.
  • weihnachtsstadt.de - unter anderem eine umfangreiche Weihnachtsgedichte- und Geschichtensammlung

Durchführung

Lebendig vorlesen

Es gibt nichts Einschläfernderes als eine monoton vorgelesene Geschichte. Warum sollten Demenzkranke das anders empfinden? Im Gegenteil, gerade ihre Aufmerksamkeit hängt in besonderem Maße von einem lebendigen Vorlesestil ab. Neben der Betonung spielt auch der Kontakt zum Zuhörer eine sehr wichtige Rolle. Warum nicht zur Aktivierung eine Frage in den Raum werfen Wie: "Kennen Sie das auch?" Oder in der Einzelsituation die Hand halten? Durch leichtes Streicheln oder Verändern des Handdrucks kann die Aufmerksamkeit schnell wieder zum Vorleser gelenkt werden.

Integration möglichst vieler Sinne

Vorlesen spricht primär den Gehörsinn an. Wie aber lassen sich möglichst viele weitere Sinne dabei ansprechen? Das beginnt schon beim ersten Kontakt, sprich bei der Begrüßung. Aber was macht eine gelungene Begrüßung aus und wie leite ich zum Vorlesen über?

  1. Sprich die Zuhörer namentlich an. Das funktioniert manchmal nur mit dem Rufnamen, wobei Du besonders sensibel vorgehen solltest. Nicht jeder schätzt es, auf diese sehr persönliche Art etwa von externen Leistungserbringern angesprochen zu werden.
  2. Stelle den Kontakt zum Zuhörer her und lenke die Aufmerksamkeit auf dich.
  3. Lenke nun die Aufmerksamkeit auf das Vorlesen durch gemeinsames Aussuchen der Geschichte oder stelle einer Initialfrage.
  4. Lese laut und deutlich vor und lass vereinzelt Textfragmente ergänzen. Oder denke dir mit dem Zuhörer gemeinsam einen neuen Text aus und erfindet ein eigenes Ende.
  5. Rege anschließend ein Gespräch über den Text an und erfrage persönliche Erfahrungen des Zuhörers.
  6. Betrachtet Bilder zum Text und besprecht sie. Das erleichtert die Erinnerung an das Vorgelesene.
  7. Erweitern kannst du das Vorlesen mit gezielten Übungen zum Text.
  8. Beende eine Aktivierungs-Einheit jedes Mal mit einer persönlichen Verabschiedung.

Berücksichtigt man alle diese Punkte, werden viele Sinne angesprochen, auch wenn es augenscheinlich nur ums Vorlesen geht.

Was meinst du? Welches Buch eignet sich? Hast du auch einen Vorlesetipp, den das EbeDe.net-Team noch nicht rezensiert hat und bei den Senioren gut ankommt? Dann diskutiere mit oder schreibe für uns einen Gastbeitrag.

Vorlesen in der Ergotherapie

Ergotherapeutisches Vorlesen

Das sind die Erfolgsfaktoren für eine gelungene ergotherpeutische Intervention

  1. Vorliegen des Ergotherapiebefundes mit individueller Zielsetzung
  2. Einbeziehen (möglichst) aller Sinne
  3. (Re)aktivierung der noch bereitstehenden kognitiven und motorischen Ressourcen
  4. Erreichen der individuellen Ziele

Die Integration aller Sinne ist in der Ergotherapie Demenzkranker nicht bloß eine Empfehlung, sondern ein Muss: "Nur eine Stimulation über alle Sinne führt zu einer Interaktion zwischen Therapeut und Patient", schreibt etwa Gudrun Schaade (Ergotherapeutin und Fachautorin). In der Ergotherapie findet man jedoch noch mehr Einsatzmöglichkeiten.

Grundsätze der ergotherapeutischen Intervention

Voraussetzung für eine gelungene ergotherapeutische Intervention ist der Ergotherapiebefund, der für jeden Klienten individuell erstellt wird. Auf der Grundlage des Befunds werden gemeinsam mit dem Patienten, deren Angehörigen oder dem interdisziplinären Team die Ziele definiert und daraus die Maßnahme abgeleitet. Für einen vollständigen Befund und somit die Zielsetzung schaut sich der Ergotherapeut die Beziehungen zwischen Informationsverarbeitung aller Sinne (taktil, visuell, auditiv, propriozeptiv) und den Alltagsfähigkeiten, der Motorik, den kognitiven Fähigkeiten und den Interessen an.

Das Primärziel des Vorlesens bei Demenz ist – ohne Leistungsorientierung – der möglichst lange Erhalt der Fähigkeit und die Verzögerung des demenziellen Abbauprozesses.

Zielgerichtet aktivieren und therapieren - ein Beispiel

Frau Meier lebt im Alten- und Pflegeheim, ihre Diagnose lautet Demenz. Ein Blick in die Akte offenbart folgende Details:

  • Ergotherapieverordnung: Psychisch-funktionelle Behandlung
  • Probleme: Alle Alltagskompetenzen sind deutlich eingeschränkt (Orientierung, Wortfindung/Formulierung, Langzeitgedächtnis, Kurzzeitgedächtnis, Informationsverarbeitung).
  • Ressource: Sie hört gern Geschichten, erinnert sich aufgrund der Geschichten an biografische Ereignisse.

Daraus lassen sich folgende Ziele und Interventionen ableiten:

Mögliches ergotherapeutisches ZielIntervention
  • Erhalt der auditiven Informationsverarbeitung
  • Vorlesen
  • Nutzen der Ressourcen im Kurzzeitgedächtnis
  • Förderung der Informationsverarbeitung (auditiv)
  • Gespräch über den Textinhalt
  • Fragen zum Text oder zum gerade vorgelesenen Satz
  • Spezielle kognitive Übungen
  • Nutzen der Ressourcen im Langzeitgedächtnis (Aktivierung des selbstbezogenen Wissens)
  • Bezug zur Biografie des Patienten herstellen ("Kennen Sie das auch?“, "Haben Sie das früher auch so gemacht?")
  • Gespräch über Erlebnisse des Patienten
  • Spezielle kognitive Übungen
  • Stabilisierung des Selbstwertgefühls
  • Patient merkt das er/sie noch Kompetenzen hat
  • Förderung der Informationsverarbeitung vieler Sinne
  • Übungen zu dem zum Thema mitgebachten Gegenstände z. B. Tasten
  • Orientierungshilfen geben
  • Text passend zur Jahreszeit aussuchen
  • Im Begrüßungsritual festgelegte Hilfen zur Orientierung (Datum, Zeit, Jahreszeit)
  • Erhalt Wortfindung/Formulierung
  • Alle Tätigkeiten, Übungen bei denen der Patient spricht

Aus der Vielzahl an Zielen und den möglichen Interventionen lässt sich eine Vielzahl von abwechslungsreichen ergotherapeutischen Einheiten erstellen. So entwickelt der Ergotherapeut eine Art ritualisierten Ablauf, der dem Demenzkranken Sicherheit bietet, verwendet einen Variablen etwa im Rahmen der kognitiven Übungen und erreicht somit die vorher definierten Ziele.

Ideen für die ergotherapeutische Praxis

Damit die Geschichte nicht nur vorgelesen wird, findet man in der ergotherapeutischen Fachliteratur verschiedenste Vorschläge zum praktischen Einsatz. Einige Varianten für bekannte Geschichten, Märchen, Verse oder Gedichte stelle ich in Anlehnung an den oben skizzierten Ablauf dar:

  1. Sprich die Zuhörer namentlich an. Das funktioniert manchmal nur mit dem Rufnamen, wobei Du besonders sensibel vorgehen solltest. Nicht jeder schätzt es, auf diese sehr persönliche Art etwa von externen Leistungserbringern angesprochen zu werden.
  2. Stelle den Kontakt zum Zuhörer her und lenke die Aufmerksamkeit auf dich.
  3. Lese nun den ersten Geschichtenabschnitt oder erzähle ihn frei .
  4. Integriere spätestens jetzt den Zuhörer und gehe über zu einem gemeinsamen Ergänzen/Weitererzählen der Geschichte anhand von Bildern, Gegenständen oder bekannten Reimen:
    1. Erzählen mit Bildern: Zu jeder Schlüsselszene der Geschichte gibt es ein Bild, das die Situation wiederspiegelt. Manchmal steht der Text drunter wie bei den alten Bilderbüchern von Max und Moritz (Wilhelm Busch) oder es findet sich eine Kurzbeschreibung auf der Rückseite.
    2. Erzählen mit Gegenständen: Zu der jeweiligen Geschichte werden die passenden Gegenstände mitgebracht, gemeinsam betrachtet und durch sie der Märcheninhalt erarbeitet. Für Schneewittchen wären das Kamm, Apfel, Zwerg, Puppe mit schwarzem Haar, Löffel, Gabel und Teller.
    3. Erzählen durch Reime: Viele Geschichten beinhalten bekannte Verse, deren Inhalt noch abgerufen oder vervollständigt werden kann. Zwecks Integration weiterer Sinne können die Texte auch auf Karten geschrieben werden. Hierfür wir der Anfang des Spruchs in großer Schrift auf die Vorderseite geschrieben und die Textergänzung auf die Rückseite.
    4. Am Ende jeder Therapie steht die persönliche Verabschiedung

Vorlesen baut Verunsicherung ab

Dame liest ein Buch in einem SalonFoto: BiblioArchives/LibraryArchives (CC BY 2.0)Oftmals ist die Situation für den demeziell Erkrankten befremdlich, wenn ein Therapeut ins Haus oder in das Zimmer des Heims kommt. Unsicherheit und Ängste stehen zu Beginn der Einheit im Raum. Aber wie komme ich als Therapeut zu meinem Ziel? Wie schaffe ich Vertrauen? Eine Möglichkeit ist das Vorlesen oder gemeinsame Lesen. Dies ist eine Handlung, die aus der frühen Kindheit bekannt ist und daher Vertrauen schaffen kann. Dies geschieht dadurch, dass man dem Klienten schon kurz nach Betreten des Raums vermittelt, dass man ihm keine Leistung abverlangt, sondern ein gemeinsames Interesse hat.

Über eine Geschichte lässt sich ein Großteil der Demenzkranken an andere kognitive Übungen heranführen, die ohne so etwas Vertrautes wie Vorlesen eher Unsicherheit auslösen würden. Wenn man einem mittelschwer demenzkranken Menschen zu Behandlungsbeginn ein Arbeitsblatt mit kognitiven Übungen hinlegt (auch auf seinen Wunsch hin), verunsichert ihn das oft und er geht dann skeptisch an die Aufgaben heran. Das hat die Praxis oft gezeigt. Liest man jedoch zum selben Thema eine Kurzgeschichte und macht anschließend das Arbeitsblatt, so bleibt die Verunsicherung aus. Vermutlich liegt es daran, dass die Geschichte ein vertrautes Gefühl weckt: Außerdem kennen wir die Abfolge und zweitens schon in der Schule auf das Vorlesen einer Geschichte Aufgaben folgten.

Fazit

Richtig angegangen aktiviert das Vorlesen von Geschichten alle Sinne der Demenzkranken, bietet Erzählanlässe und damit oft den Einstieg zu anderen Aktivitäten, indem es Vertrauen schafft. Nicht nur in der Betreuung sorgen Geschichten für ein Plus an Lebensqualität. Auch in der Ergotherapie ist das der Fall, wobei hier der das Vorlesen kombiniert mit anderen Interventionen auf eine Vielzahl von Zielen einzahlt.